Betrachtungen zur Vergabe von Nobelpreisen im modernen Wissenschaftsbetrieb
Nobelpreise 2015 in Medizin und Chemie
Die Nobelpreise für Medizin wurden, wie in allen Medien berichtet, dieses Jahr für Arbeiten gegen Infektionskrankheiten (William C. Campbell, Satoshi Ōmura und Youyou Tu) verliehen (1). Die Preise für Chemie erhielten drei DNA-Forscher: der gebürtige Schwede Tomas Lindal, der US-Amerikaner Paul Modrich und der in der Türkei geborene Aziz Sancar (2).
Die Vergabe des Preises für Arbeiten für Therapien gegen Infektionskrankheiten ist sicherlich gerechtfertigt, selbst wenn viele Forscher eventuell an eine Vergabe des Preises an Erkenntnisse der modernen Medizin (u.a. an monoklonale Antikörper gegen Krebs) gedacht hatten. Doch dazu Näheres in den folgenden Betrachtungen.
Betrachtungen zur Vergabe von Nobelpreisen im modernen Wissenschaftsbetrieb
Die nachfolgenden Betrachtungen sind in überarbeiteter, ergänzter Form einem früheren Beitrag des Autors in einem anderen Magazin entnommen (3).
Die 1901 zum ersten Mal verliehenen Nobelpreise sollten verdiente Wissenschaftler für überragende Erfindungen bzw. Entdeckungen auszeichnen. Bis etwa 1960 war die Auswahl der Laureaten in den Naturwissenschaften und für die Medizin relativ einfach und für jeden Fachmann nachvollziehbar, bei Literatur- und Friedensnobelpreisen und auch in den Wirtschaftwissenschaften waren (und sind) die Selektionskriterien oft von politischen Motiven oder modischen Umständen geprägt. Zur Ehre des Nobelpreiskomitees muss festgestellt werden, dass die Auswahl auch in diesen Kategorien meist gut getroffen wurde. In den Naturwissenschaften und medizinischen Fachgebieten wurde die Auswahl geeigneter Kandidaten ab etwa 1960 zunehmend problematischer. Der Wissenschaftsbetrieb hatte inzwischen einen derartigen Umfang angenommen, dass herausragende Einzelleistungen selbst Fachleuten oft nicht mehr bekannt waren. Gelegentlich wurden Nobelpreisträger für ihr gesamtes Lebenswerk ausgezeichnet. In den letzten Jahrzehnten werden die Preise meist unter zwei oder drei Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler geteilt. Diese Vergabepraxis entspricht der Komplexizität des Wissenschaftsbetriebes, weil Einzelleistungen wie etwa die Entdeckung der Röntgenstrahlung oder der Atomspaltung, immer seltener werden. Diese Komplexizität und die dadurch erforderliche Spezialisierung in den Natur- und Biowissenschaften machen herausragende Entdeckungen als Einzelleistungen in Zukunft ziemlich unwahrscheinlich, ausgeschlossen sind solche Einzelleistungen jedoch auch in der Zukunft nicht. Es gehört zum Wesen einer Entdeckung, dass sie vorher niemandem bekannt war.
Anm.: 1990 wurde das „Human Genome Project“ (HGP) gegründet, 1998 gründete John Craig Venter eine Art Konkurrenzunternehmen „Celera Corporation“, das mit Hilfe privater Finanzierung die Gene des Menschen durch automatische Sequenzierung erfasste und Craig Venter über 6000 Patente von Gensequenzen mit dem Ziel der Entwicklung neuer Pharmaprodukte anmeldete (Craig Venter publizierte sogar sein eigenes vollständiges Genom). Zunächst wurde befürchtet, dass die Forschungen anderer Wissenschaftler und Firmen dadurch blockiert würden, es stellte sich jedoch bald heraus, dass nicht die Kenntnis des gesamten Genoms oder einzelner Gensequenzen zur erfolgreichen therapeutischen Genmanipulation wichtig ist, sondern die Kenntnis des genauen Ansatzpunktes an einem bestimmten Genabschnitt, und in diesem Punkt waren kleine, damals noch relativ unbekannte Biotech-Unternehmen erfolgreicher als Craig Venter.
Bei den diesjährigen Nobelpreisverleihungen für Medizin und Chemie (2015) fällt besonders die seit langem bekannte Realität auf, dass sich medizinische und chemische Forschung stark überschneiden können (aber nicht müssen). Es ist nicht wegzuleugnen, dass die Medizin nicht mehr nur eine rein empirische Wissenschaft (Erfahrungswissenschaft) ist, als die sie früher galt, sondern dass sie sich zu einer „echten“ Naturwissenschaft mit Spezialdisziplinen (Biochemie, Humangenetik) gewandelt hat. Dies hat Vor- und Nachteile. Werden theoretische Kenntnisse an Medizin-Unis in der Intensität gelehrt, wie sie für eine anspruchsvolle Grundlagenforschung nun einmal notwendig ist, so nimmt dies zweifellos wichtige Ausbildungszeit für Fächer der klassischen Medizin in Anspruch und führt zu einer Verlängerung des Studiums, in welchem die ursprünglich ebenfalls klassischen Fächer der Medizinausbildung (u.a. Pharmakologie und Physikum) heute meist eher stiefmütterlich behandelt werden. Zudem ist ein Personal- und Apparateaufwand erforderlich, der abgesehen vom Know-how, eigentlich nur in der seriösen, auf Biochemie und Humangenetik spezialisierten Pharmaindustrie vorhanden ist. Frühe Kooperationen mit solchen Firmen sind also für Med-Unis unabdinglich, wenn es in der theoretischen medizinischen Forschung nicht bei „Absichtserklärungen“ nach Anfangserfolgen bleiben soll. In dieser Hinsicht sind aber allzu frühe medizinische Publikationen oft eher hinderlich, wenn dadurch eine mögliche Patentierung wegen „Vorpublikation“ gefährdet erscheint.
Die diesjährigen Chemie-Nobelpreise sind typische DNA-Forschungsarbeiten („mechanistische Studien der DNA-Reparatur“), bei denen zur Begründung auch der Hinweis auf die moderne Krebsforschung nicht fehlt. Man würde sich also nicht gewundert haben, wenn diese Arbeiten mit einem Medizin-Nobelpreis belohnt worden wären – zumal die Entdecker der DNA-Struktur James Watson und Francis Crick ihre Nobelpreise 1962 für Physiologie und Medizin erhielten (für vergleichbare Überschneidungen zwischen Chemie und Medizin gäbe es unzählige weitere Beispiele).
Auch wenn nobelpreiswürdige Einzelleistungen heute sicherlich schwieriger zu erbringen sind, schmälert diese Realität jedoch nicht die Leistungen der neuen NobelpreisträgerInnen. Immerhin sollte über die zukünftige Sinnhaftigkeit bzw. den Zweck von Nobelpreisen wieder etwas mehr nachgedacht werden. Auszeichnungen für das gesamte Lebenswerk sind ebenso gerecht, wie die Aufteilung an mehrere Wissenschaftler, weil hervorragende Leistungen in den Naturwissenschaften und im Fach Medizin fast nur noch durch interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich sind. Viele Mitarbeiter, wie z.B. Analytiker, Computer- und andere Fachleute gingen bis 2009 bei der Verleihung der Preise überhaupt „leer“ aus, obwohl deren Arbeit die spektakulären Leistungen von Nobelpreisträgern überhaupt erst möglich machen (2009 wurde bekanntlich ein Physiker für bahnbrechende Arbeiten für Glasfaserkoaxialkabel und lichtempfindliche Microchips ausgezeichnet). Wer denkt im Gegensatz zu früher an die Würdigung von Highlights der industriellen Forschung, die heute vielfach erfolgreicher als die universitäre Forschung ist? Entspräche nicht eine finanzielle Unterstützung von Instituten oder wissenschaftlichen Arbeitskreisen, die an wesentlichen, für die Menschen unserer Zeit nützlichen Aufgaben arbeiten eher der heutigen Realität - aber auch der Intention des Gründers der Alfred Nobel Stiftung mehr als die Vergabe an Einzelpersonen?
Bleibt abschließend zu hoffen, dass Nobelpreise für Medizin und Naturwissenschaften auch weiterhin nicht aus politikstrategischen Gründen verliehen werden, wie dies bei Nobelpreisen für Frieden und Literatur offenbar gang und gäbe ist.
(AR)
(8.10.2015)