Pharmaforschung

 

 

Was ist "innovative" Pharmaforschung? - Allgemeine Betrachtungen

 

Für das Stichwort „innovative Pharmaforschung“ gibt es in yahoo über 19000 Suchergebnisse – es sollte also nicht so schlecht um neue Arzneimittel bestellt sein. Tatsache ist dagegen, dass im Jahr 2006 von der FDA (Food and Drug Administration) weltweit nur 10 Substanzen der Kategorie „Priority Review“ zugelassen wurden – das sind Substanzen, von denen die FDA überzeugt ist, dass sie eine überragende Verbesserung gegenüber früheren Wirkstoffen bedeuten. Insgesamt stagniert die Zahl neu eingeführter Arzneistoffe seit Jahren, obwohl die aufgewendeten Forschungsausgaben immer weiter steigen und fast nur noch nach Fusionen von großen Pharmaunternehmen aufgebracht werden können. Es ist wesentlich billiger, bereits vorhandene Wirkstoffe „ein bisschen“ zu verbessern, oder sogenannte Generica zu verkaufen – das sind Substanzen, deren Patentschutz abgelaufen ist und deren Herstellung daher nur wenig kostet. Der Patentschutz einer neuen Substanz dauert 20 Jahre und kann unter hohem Kostenaufwand um maximal 5 Jahre verlängert werden. In diese Schutzzeit sind normalerweise die Jahre von der Entdeckung einer Wirksubstanz angefangen bis zur Zulassung eingeschlossen – das sind heute ca. 15 Jahre (manchmal länger). Weil ein umfassender Patentschutz unmittelbar nach der Entdeckung einer erfolgsversprechenden beantragt werden sollte, müssen sämtliche Entwicklungskosten also in wenigen Jahren nach erfolgter Zulassung amortisiert werden, was sich in den relativ hohen Preisen neuer Arzneimittel natürlich niederschlägt. Billigere Generica brauchen nicht schlecht zu sein – auch vor 20 Jahren waren die Zulassungsbedingungen bereits sehr streng, in jedem Fall handelt es sich jedoch um Substanzen, die einem Entwicklungsstand vor 20 (bis 25) Jahren entsprechen. Viele Wirkstoffe der heute verkauften Generica wurden sogar bereits vor 40 bis 50 Jahren entwickelt - der Begriff „innovativ“ ist daher bei keiner dieser Substanzen angebracht.

 

Ein kleiner Rückblick der Arzneimittelforschung

 

Nach der „Kräutermedizin“ der vergangenen Jahrtausende, wurde gerade diese Medizin zum Ausgangspunkt der modernen Pharmaforschung, nachdem es ab etwa 1840 durch den Beginn der „wissenschaftlichen“ Chemie möglich wurde, Pflanzenwirkstoffe zu analysieren und auch zu synthetisieren. Bei der Synthese merkte man sehr schnell, dass ein „nachgebautes“ Molekül nicht immer die gleiche Wirksamkeit hat, wie die von der Pflanze hergestellte chemische Verbindung. Die Ursache ist, dass räumlich-strukturelle Anordnungen bei komplizierten Molekülen auch heute nicht chemisch exakt synthetisierbar sind. Dazu kam der enorme Syntheseaufwand, sodass sich die Chemiker sehr schnell mit der Frage beschäftigen mussten, ob nicht vielleicht einfachere Varianten eines komplizierten Wirkstoffes eine ähnliche Wirksamkeit haben könnten. Dies hat sich in vielen Fällen bewahrheitet, man stellte sogar fest, dass stark abgewandelte (also nicht nur vereinfachte) Substanzen oft sogar wirksamer sind, als das ursprüngliche pflanzliche (oder tierische) Produkt. Ab ca. 1860 entstanden dann die oft heute noch bestehenden Arzneimittelfirmen (meist als Fusionen mit anderen großen Firmen), die mehr als 100 Jahre lang, bis zum „Aufblühen“ der Biochemie, diese Art von Pharmaforschung betrieben. Zudem stellte sich heraus, dass auch ganz zufällig gefundene, völlig andere Verbindungsklassen medizinisch wirksam sein können, was die Bandbreite der Pharmaforschung stark erweiterte.

 

Die Bedeutung falscher Hypothesen

 

„Besser eine falsche Hypothese als gar keine“ – dieser oft geäußerte Satz gilt ganz besonders auch in der Pharmaforschung. Als Gerhard Paul Domagk (1895-1964, Pathologe und Bakteriologe bei der Bayer AG), von der damals falschen Voraussetzung ausging, dass Farbstoffe, welche Bakterien selektiv einfärben und schädigen können, auch als antibakterielle Wirkstoffe verwendbar sein müssten, fand er in unzähligen Versuchen das erste antibakteriell hochwirksame Medikament „Prontosil“, das als Azofarbstoff seine Ausgangshypothese zunächst bestätigte. Andere Wissenschaftler zeigten dann jedoch, dass die Wirksamkeit nicht auf dem Farbstoffprinzip beruhte und es gelang, von Prontosil ausgehend, ein absolut farbloses Medikament (Prontalbin, Bayer AG) zu finden, durch das zum ersten Mal der „Sulfonamid-Begriff“ in der Pharmaforschung als geläufiges Wirkstoffprinzip eingeführt wurde (siehe a. Anm.). Domagk erhielt 1939 für die Erfindung der Sulfonamide den Nobelpreis, den er obwohl er kein Jude war, vom schwedischen Nobelpreiskomitee nicht in Empfang nehmen durfte, sondern die Urkunde erst 1947 bekam (er erhielt allerdings kein Preisgeld, weil dieses, den Gesetzen der Stiftung entsprechend, an die Stiftung zurückfällt, wenn ein Preis nicht innerhalb eines Jahres „abgeholt“ wird).

 

Anm.: 1956-58 wurde in Innsbruck das erste in niedriger Dosierung hochwirksame Breitbandsulfonamid gefunden (H.Bretschneider et al.), das von einem Schweizer Konzern (Roche-Madribon®) als lange Zeit bedeutendstes Sulfonamid weltweit eingeführt wurde.

 

Viele große Pharmaerfolge beruhen auf solchen „falschen“ Hypothesen – aber wer nicht denkt – denkt nicht!

 

Die Bedeutung der Biochemie und Humangenetik

 

Seit etwa 1960 flossen zunehmend biochemische Hypothesen in die Entwicklung neuer Medikamente ein, allerdings war auch die Biochemie zu dieser Zeit eine eher rudimentäre Wissenschaft. Dass änderte sich in den nächsten zwei Jahrzehnten grundlegend und die Biochemie und die Humangenetik sind seit etwa 1980 der wichtigste Ansatz zur Auffindung neuer Pharmaka.

 

Molecular Design

 

Darunter versteht man (ab ca. 1980) das computerunterstützte Auffinden neuer Wirkstoffklassen oder auch die Verbesserung bereits vorhandener Wirkstoffe, welche „sozusagen vom Reißbrett aus“ konzipiert werden. Grundlage dafür war die Entwicklung der Computertechnologie, die für „Molecular Design“ in zweifacher Hinsicht absolute Voraussetzung ist. Erstens ist diese Methode nur anwendbar, wenn computerberechnete Röntgenstrukturanalysen vorliegen und zweitens ist die dreidimensionale Einpassung eines Wirkstoffmoleküls in eine Eiweißstruktur nur mit Hilfe komplizierter Rechenprogramme möglich. Während die Rechenprogramme sehr bald realisiert werden konnten, ist der Erfolg derzeit eher durch die Röntgenstrukturanalyse von Eiweißen limitiert. Die Methode ist nämlich nur anwendbar, wenn „Einkristalle“ eine Röntgenstrukturanalyse möglich machen. Dies ist bei den chemischen Wirkstoffen fast immer möglich, während sich Eiweiße oft nur sehr schwer kristallisieren lassen.

 

Sind die genannten Voraussetzungen vorhanden, so ist es einfach „überwältigend“, wie man am Computerbildschirm – bzw. mit Rot-Grünbrillen sogar im Abstand von 2 bis 3 Metern vom Computer entfernt – räumlich mitverfolgen kann, wie weit ein Wirkstoff in der Lage ist (oder auch nicht) sich einem „Rezeptor“ innerhalb eines Eiweißkanals zu nähern (Rezeptoren sind spezialisierte Zellen als Bindungstelle für eine Wirksubstanz). Man kann das Wirkstoffmolekül am Computer beliebig drehen und versuchen, durch am Computer simulierte Veränderungen des Moleküls eine deutliche Annäherung an den „Rezeptor“ zu erreichen – ein sehr wichtiger Hinweis für den Synthesechemiker, seine vorhandenen Wirksubstanzen zu optimieren.

 

Screening

 

Neben diesen neuen Ansätzen wird auch das traditionelle „Screening“ betrieben, das nach der Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming (1928) erst 10 Jahre später durch andere Wissenschaftler erstmals angewendet wurde, wobei systematisch alle Mikroorganismen auf antibakterielle Wirkung untersucht wurden. Fleming hat das Penicillin und seine Wirksamkeit gegen grampostive Bakterien (Streptokokken, Staphylokokken und Pneumokokken) zwar entdeckt, aber selbst nicht daran gedacht, das aus einem Schimmelpilz gewonnene Penicillin auch als Medikament gegen Infektionen einzusetzen.

Große Pharmafirmen untersuchen heute mit Hilfe hochmoderner Screeningmethoden und einem Durchsatz von bis zu 100000 Substanzen pro Jahr nahezu vollautomatisch zu testen, um pharmakologisch verwertbare Anhaltspunkte zur Entwicklung neuer Medikamente zu finden. Man kann dieses Screening eigentlich nicht als „innovativen Ansatz“ bezeichnen, obwohl die Zahl brauchbarer Hinweise durch Screeningmethoden gar nicht so gering ist. „Innovativ“ ist diese Methode deshalb nicht, weil sie auf dem Prinzip „Zufall“ beruht – allenfalls können Screeningergebnisse zu Gedanken über die Ursachen der aufgefundene pharmakologischen Wirkungen führen, was dann zu innovativen Forschungsansätzen führen kann.

 

Neue zielorientierte Trends der Arzneimittelforschung – Stand und Ausblick

 

Unsere heutigen Kenntnisse erlauben es, körpereigene Stoffe künstlich herzustellen, die natürlichen Abwehrsysteme unseres Organismus zu stärken und die Dosis vieler Arzneimittel durch Kenntnis biochemischer Vorgänge so herabzusetzen, dass die Schädigungen durch Arzneimittel (u.a. bei der Chemietherapie) wesentlich geringer sind als früher.

 

Die Herstellung monoklonaler Antikörper, körpereigener Stoffe (wie aller therapeutisch einsetzbaren Proteine) oder komplizierter Naturstoffe ist nur durch molekularbiologische und gentechnische Methoden möglich, deren Herstellung überaus kostenintensiv ist, wobei allein die Aufreinigung der molekularbiologisch hergestellten Substanzgemische teuer ist und sich die Gesamtherstellungs- und Forschungskosten kaum analog zur Herstellung klassischer Arzneimittel wesentlich verbilligen lassen. Auch halbsynthetisch hergestellte Therapeutica wie z.B. das bei der Prostatakarzinombehandlung seit wenigen Jahren erfolgreich eingesetzte Chemotherapeuticum Cabazitaxin (Jevtana) ist als chemisch hochkomplizierter Inhaltstoff der Eibe (siehe Content dieses Magazins) enorm teuer.

 

Da fast alle Alterserkrankungen (Demenzen, Parkinson, Krebs, Rheumatischer Formenkreis) wohl kaum ohne Einsatz solcher teuren Stoffe behandelbar sein werden, ist der Weg in eine „Zweiklassenmedizin“ praktisch vorgezeichnet, um so mehr als das durch die moderne Medizin ermöglichte höhere Lebensalter der Menschen weiter zunehmen wird.

 

Schlussbetrachtung

 

Ernste Erkrankungen sind ohne medizinische Behandlung nicht heilbar. Ebenso wichtig sind jedoch die psychologische Betreuung, das Wiedererlernen von Optimismus und die eigene Beobachtung der Erfolge einer Therapie. Es ist erwiesen, dass eine optimistische Einstellung zum Leben und zu den Gefahren, die jedes Leben birgt, das Immunsystem stark fördert – ebenso wie andauernder Stress und Pessimismus das Immunsystem schädigen können. Wer keinen Lebenswillen hat, dem kann eigentlich niemand helfen. Die Kombination vieler (auch alternativer Methoden) ist sicherlich der richtige Weg zu einer erfolgreichen Gesamttherapie. Als „überzeugter Arzneimittelforscher“ weiß der Herausgeber dieses Magazins, dass moderne Arzneimittel zwar unentbehrlich, jedoch nur ein Teil der Behandlung ernster Erkrankungen sind. Auch bei vielen Erkrankungen im mittleren Lebensalter sind nach genauer medizinischer Diagnostik, Arzneimittel oft entbehrlich oder können durch gesunde Lebensweise (Nichtrauchen, mäßiger Sport, vernünftige Ernährung) zumindest reduziert werden. (AR)

 

(16.11.2012)

 

Pharmaka sind Wirkstoffe für therapeutische oder diagnostische Zwecke, allerdings gilt der von Paracelsus (1493-1541) geprägte Satz:

 

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei“.

 

Paracelsus machte sich bei seinen Vorlesungen in Basel oft unbeliebt weil er sie 1). auf deutsch hielt und 2). die vorherrschende Meinung der Humoralpathologie des Galen oft als Bücherweisheit medizinischer Gelehrter kritisierte.

 

 

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© Dr. Alfred Rhomberg