TCM „versus“ Schulmedizin

 

 

 

 

 

TCM "versus" Schulmedizin

 

Das in der Titelüberschrift gewählte Wort „versus“ (kontra, gegenüber) wurde absichtlich in der Form „versus“ gewählt, weil diese Bezeichnung gerade in der Medizin besonders häufig beim Vergleich unterschiedlicher Arzneimittel oder Therapieformen in Studien und Publikationen gewählt wird – allerdings ohne „Anführungszeichen“. In der Titelüberschrift sollte statt „versus“ eigentlich das Wort „und“ stehen. Dieser Beitrag befasst sich in erster Linie mit diesem „und“.

 

Gleich zu Beginn soll auf den wesentlichen Unterschied der modernen Schulmedizin zur TCM aufmerksam gemacht werden, weil es diesen tatsächlich gibt, jedoch auf einer Entwicklung innerhalb der modernen Medizin beruht, die es in unserer Schulmedizin früher so nicht gab. Leider muss man den Anhängern der chinesischen Medizin (in der grundsätzlich der ganze Körper eines Menschen betrachtet wird) recht geben, weil es das „Gesamtindividuum“ in der modernen westlichen Schulmedizin immer weniger, oft gar nicht mehr gibt. Ärzte haben hier häufig die Ausrede, dass es im modernen Medizinbetrieb im Krankenhaus oder in der Sprechstunde gar nicht mehr möglich sei, den ganzen Menschen zu betrachten. Diese Sichtweise ist nur zum Teil richtig, sie könnte relativ einfach geändert werden, ohne unser Gesundheitssystem ins Chaos zu stürzen, wenn das Ausbildungssystem der Medizin geändert würde und den Menschen als Individuum wieder mehr ins Bewusstsein brächte. Es wäre durchaus auch bei einer kassenärztlichen Behandlung vorstellbar, dass das erste Gespräch mit dem Hausarzt ausschließlich auf die Gesamtperson und deren soziales Umfeld ausgerichtet ist. Man kann selbst in der kurzen Zeit von 10 bis 15 Minuten soviel über mögliche Krankheitsursachen erfahren, dass sich die Zahl weiterer, ständiger Arztbesuche deutlich verringern ließe.

 

Am meisten lernt man aus eigenen Erfahrungen. Als ich als junger Chemiker, der sich bereits während seiner dreijährigen Doktorarbeit und weiterer drei Jahre als Hochschulassistent mit Arzneimittelforschung beschäftigt hatte, in die Pharmaindustrie wechselte, wurde der erste Grundstein zu diesem Beitrag gelegt. In der Pharmaforschung einer großen Firma arbeiten etwa gleich viel Chemiker und Mediziner eng zusammen. Fast alle Mediziner, außer dem medizinischen Forschungsleiter (ein Pharmakologe) waren Spezialisten, die sich auf ein ganz winziges Teilgebiet des menschlichen Organismus „eingeschossen“ hatten. Das Chemiestudium war dagegen (und ist es zum Teil auch heute noch) ein Studium, das diese strenge Form der Spezialisierung nicht kennt. Auch meine chemischen Kollegen in der Firma, die selbstverständlich alle auf ihren Spezialgebieten arbeiteten, waren keine absoluten Spezialisten, weil man sich das als Chemiker besonders in der Pharmaindustrie nicht leisten kann. Arzneiwirkstoffe findet man in allen chemischen Strukturklassen und um solche chemischen Verbindungen herzustellen, benützt man die gesamte Palette der zur Verfügung stehenden Methoden, einschließlich solcher, die im Rahmen der Analytik tief in physikalische Wissensgebiete eindringen.

 

Anm.: dies machte sich auch bei Kongress- und Weiterbildungsstudien bemerkbar. Während Ärzte unserer Firma in erster Linie medizinische Spezialkongresse ihres Arbeitsgebietes besuchten, erlaubte es die Firma allen Chemikern grundsätzlich, chemische Kongresse zu besuchen, die nichts mit dem eigenen Arbeitsgebiet zu tun hatten. Ich selbst durfte viele einwöchige Fortbildungskurse über neuere wissenschaftliche Grundlagen an bekannten Universitäten besuchen, Kurse, die von der Gesellschaft Deutscher Chemiker (es gibt auch einen österreichischen Zweig dieser Gesellschaft) veranstaltet, aber von der Industrie bezahlt wurden.

Die Mediziner an Kliniken zu denen man in der pharmazeutischen Forschung immer Kontakt hat, waren ebenfalls Spezialisten wie unsere hauseigenen Mediziner – der Gedanke einer gesamtheitlichen Betrachtung des menschlichen Körpers stand weder bei meinen Kollegen der Firma, noch bei anderen Ärzten in einem erkennbaren Vordergrund. Am ehesten, waren Pharmakologen (wie z.B. unser medizinischer Forschungsleiter) in der Lage, den Gesamtorganismus zu betrachten, weil in der Pharmakologie u.a. auch das vegetative Nervensystem, welches den ganzen Körper beherrscht und die Kenntnis chemischer Wirkstoffe, die dieses Nervensystem beeinflussen, eine ausschlaggebende Rolle spielen.

 

Warum ein Großteil der westlichen Gesellschaft heute von der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) so beeindruckt ist, liegt daran, dass diese Medizin, wie bereits erwähnt, den Menschen als „Ganzes“ betrachtet. Sie geht auf psychosomatische Zusammenhänge (ohne diese genau zu definieren) ebenso ein, wie auf das gesamte Erscheinungsbild eines Menschen und auf Merkmale wie z.B. Gesichtsfarbe, ausgeschiedene Körperflüssigkeiten, sowie auf das soziale Umfeld eines Menschen. Nun ist die Analyse von Körperflüssigleiten oder das Aussehen eines Menschen auch für unsere westlichen Mediziner selbstverständlich – der Unterschied liegt darin, dass die Diagnostik von Körperflüssigkeiten (Blut, Harn oder Stuhl) meist maschinell stattfindet und die Daten eines Speziallabors dann per FAX oder mail als Zahlenwerte mit oberen und unteren Grenzwerten an den behandelnden Arzt gesendet werden. Ein guter Allgemeinmediziner beurteilt zwar noch visuell die Farbe des Urins, der Geruch dieser Flüssigkeit (ein wichtiges Indiz vieler Krankheiten), wird wohl selten wahrgenommen. Die Stuhlanalyse findet in Form hygienisch wohl verpackter Abstriche statt, deren Analyse dann ebenfalls maschinell stattfindet usw.

 

Dies war nicht immer so - im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts legte der Hausarzt auf eine Gesamtbeurteilung der oben geschilderten Dinge Wert, zudem kannte er die persönlichen Verhältnisse (also das soziale Umfeld) seiner PatientInnen durch zahlreiche Hausbesuche ziemlich gut. So etwas findet man heute allenfalls in guten Landarztpraxen – leider nicht beim Internisten, Urologen oder anderen Spezialärzten. Ich hatte früher immer behauptet – und mein Schwiegervater hatte als Chirurg meine Annahme bestätigt, dass die Medizin eine reine Erfahrungswissenschaft und keine Naturwissenschaft sei. Dies hat sich heute in gewisser Hinsicht geändert. Wegen der auch bei den meisten Ärzte inzwischen vorhandenen Kenntnis biochemischer Prozesse und der Möglichkeiten, solche Kenntnisse anzuwenden, hat sich die Medizin heute (zumindest teilweise) von einer reinen Erfahrungswissenschaft zur Naturwissenschaft gewandelt. Dies hat Vorteile, aber auch die oben beschriebenen Nachteile.Wünschenswert wäre, dass der Arzt weiterhin Erfahrungswissenschaftler bleibt, dem sein naturwissenschaftliches Wissen ergänzend zur Seite steht.

 

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)

 

Wesentliches ist bereits oben gesagt worden. Die TCM ist eine Heilkunst, die in China vor über 2000 Jahren begründet und über die Jahrhunderte hinweg weiterentwickelt wurde. Zu den wesentlichen therapeutischen Verfahren, die in dieser Medizin zur Anwendung kommen, gehören die Arzneitherapie, die Akupunktur, Moxybustion (Erwärmung von Akupunkturpunkten), Massagetechniken und eine am Krankheitsbild orientierte Diäthik, sowie Bewegungsübungen wie Qigong (oder Chigong). Die Verfahren chinesischer und japanischer Ärzte übten ihren Reiz auf westliche Ärzte gleich nach den ersten Kontakten zwischen Europa und China vor mehreren Jahrhunderten aus. Das heutige Interesse resultiert aus dem Bewusstsein für die Grenzen westlichen Fortschritts (etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Ein nachhaltiger Einfluss auf die Menschen der westlichen Welt ist erst nach 1970 spürbar – also seitdem die westliche Medizin durch ganz besondere neue Erkenntnisse heute ein Instrumentarium hat, das der moderne Patient nicht kennt, jedoch fürchtet.

 

Weltweit hat sich heute in der westlichen Medizin dieAkupunktur am meisten (zu Recht) durchgesetzt. Die Erfolge durch Akupunktur sind eindeutig belegt, hängen jedoch – wie immer – von der Erfahrung des behandelnden Arztes ab. Dabei wäre es falsch, anzunehmen, dass westliche Ärzte diese Kunst etwa schlechter beherrschen könnten, als chinesische Mediziner. Die Theorie der Akupunktur, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, entspricht durchaus auch unserem modernen medizinischen Verständnis.

 

Etwas schwieriger ist es, die Grundlagedes„Qi“ der chinesischen Medizin in unsere Vorstellungswelt einzupassen, obwohl auch hier wesentliche Grundlagen mit Vorstellungen unserer modernen Medizin nicht grundsätzlich in Widerspruch stehen. Am ehesten sind noch die Vorstellungen über Gleichgewichte im menschlichen Körper akzeptierbar, jedoch schon der Begriff „Qi“ als „Energie“ ist wissenschaftlich sehr schwer nachvollziehbar, weil dieser Begriff äußerst unterschiedlich in der chinesischen Medizin und der chinesischen Philosophie (die eine große Rolle in der TCM hat) verwendet wird. Eher ist die Auffassung von Qi als Spannung von Yin und Yangnachvollziehbar. Ohne näher darauf einzugehen sei hier festgehalten, dass dasYin-Yang Prinzip nicht nur den Gegensatz „weiblich männlich“ bedeutet, sondern auch den Gegensatz von „gut und böse“ einschließt und letztlich auch von Anbeginn der chinesischen Philosophie den Unterschied und Widerstreit zwischen Konfuzianismus und Daoismus (Taoismus) mitgeprägt hat. Dem Yin-Yang Begriff entspricht allerdings in der modernen Schulmedizin das Wissen über verschiedene Gleichgewichte (Agonist/ Antagonist, Rezeptor/auslösender Reiz usw.), denn auch in der TCM gilt der Grundsatz, dass es ein Yang ohne Yin (und umgekehrt) nicht gibt.

 

Besonders schwer nachvollziehbar ist für uns beim Qi-Begriff die Ausweitung des Begriffes im Kreislauf der Jahreszeiten oder zu den fünf Elementen (Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser), weil für uns die Vorstellung eines selbst erfüllenden Ganzen oder der Mikrokosmos als Abbild eines Makrokosmos, der mit seinen Jahreszeiten und Elementen den individuellen Organismus beeinflusst, fremd und wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist, aber auch den Grundsätzen unserer sehr alten Vorstellungen der Philosophie nicht entspricht.

 

Selbstverständlich sind auch in unserer Vorstellungswelt energetische, teilweise noch unbekannte Vergleiche zu „Qi“ z.B. im Einfluss einer Energie auf unsere Wetterfühligkeit nachvollziehbar. Die chinesische Medizin macht es sich jedoch insofern zu leicht, als sie kein Begründungen für „Qi“ gibt, sondern den Glauben an diese Kraft voraussetzt, denn das jeweilige Qi ist auch in China nicht als „Kraft“ messbar, sondern nur in seiner an den flüchtigen Augenblick gebundenen Seinsart „erfahrbar“.

 

Feng Shui

 

Vorbehalte gelten auch für andere, bei uns inzwischen etablierte Vorstellungen, wie z.B. für Feng Shui, also der Harmonie unserer Wohn- oder Arbeitswelt. Niemand würde bezweifeln, dass das wohnliche Umfeld eine große Rolle für unser Wohlbefinden bedeutet, ebenso wie die Gestaltung einer harmonischen Arbeitsumgebung für das Arbeitsklima und unsere Leistung wichtig ist. Ob die Vorstellungen von Feng Shui wirklich stimmen, bzw. wie weit sie stimmen, ist jedoch völlig unbewiesen und weitgehend Glaubenssache (insbesondere was die geografische Ausrichtung innerhalb der Wohnwelt betrifft).

 

Niemand wird dagegen bezweifeln, dass „Qi Gong“ (Chi Gong, Chigong), das sich von „Qi“ ableitet, einen positiven Einfluss auf den Menschen hat. Warum sollte es schädlich sein, wenn sich Menschen morgens in einer schönen Umgebung (Park, Landschaft) durch vernünftige Körperbewegungen auf den Tag geistig und körperlich einstimmen?

 

Resumée:

 

1) .   Die moderne westliche Medizin und die traditionelle chinesische im Sinne eines „Schwarz-Weiß-Denkens“. Sie können sich teilweise ergänzen, es sollte jedoch auch berücksichtigt werden, dass sich Chinesen heute (vorausgesetzt, sie können es sich finanziell leisten) zuerst westlichen Methoden der Medizin zuwenden. Die Nachbehandlung erfolgt meist nach den Methoden der TCM. Dass sich die ärmere Bevölkerung, als größter Anteil der Bevölkerung Chinas westliche Medizin nicht leisten kann und auf TCM angewiesen ist, liegt auf der Hand.

 

2).     Es gibt medizinische Moderichtungen – selbst innerhalb unserer Schulmedizin. In diesem Zusammenhang wurde der Autor am 15.4.2008 durch eine Rundfunkmeldung beunruhigt, wonach auf die Besonderheit der „tibetanischen Medizin“ hingewiesen wurde. Wenn sich unsere westliche Welt zunehmend auch in medizinischer Hinsicht auf gerade in Mode befindliche Themata/Regionen einlassen sollte, ist es um das Medizinverständnis breiter Bevölkerungsteile schlecht bestellt. Jede Region unserer Erde hat eine eigene Erfahrungsmedizin entwickelt.

 

Unsere Welt hat sehr viele Regionen, man sollte sich wieder mehr auf das Wesentliche der Medizin konzentrieren. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Einfluss von TCM durchaus als „wesentlich“ zu betrachten.

 

 

(AR)

(9.12.2012, redigierte Fassung aus 2010)

 

 

Pharmaka sind Wirkstoffe für therapeutische oder diagnostische Zwecke, allerdings gilt der von Paracelsus (1493-1541) geprägte Satz:

 

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei“.

 

Paracelsus machte sich bei seinen Vorlesungen in Basel oft unbeliebt weil er sie 1). auf deutsch hielt und 2). die vorherrschende Meinung der Humoralpathologie des Galen oft als Bücherweisheit medizinischer Gelehrter kritisierte.

 

 

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© Dr. Alfred Rhomberg